Supply Chain Resilience messen:

Wie widerstandsfähig sind

eure Lieferketten?

 

von Carolina Engl  – 6 Min Lesedauer
zuletzt aktualisiert 22.03.2022

Der 23. März 2021 wird sich vielen von euch ins Gedächtnis eingebrannt haben. An diesem Tag, um exakt 07:40 Uhr Ortszeit, gelang es dem Containerschiff Ever Given mit einem gewagten Manöver den Suezkanal zu blockieren und eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt wochenlang lahmzulegen.

Lieferketten auf allen Kontinenten wurden so über Nacht einem Stresstest unterzogen, wie ihn sich wahrscheinlich niemand gewünscht hat – und etliche Supply Chain Manager stellten erschrocken fest, dass es um die Resilienz ihrer unternehmenseigenen Versorgung eher schlecht als recht bestellt ist.

Damit euch ein ähnliches Schicksal erspart bleibt, empfiehlt es sich, eure eigene Supply Chain regelmäßig und gründlich auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen. Wie ihr dabei vorgeht und welche Kriterien für eure Supply Chain Resilience (SCR) die wichtigsten Rollen spielen, erklären wir euch in diesem Beitrag.

The Big Five: Fünf Kriterien, um eure Supply Chain Resilience zu bestimmen

Die einfachste Möglichkeit herauszufinden, wie gut es um die Belastbarkeit eurer Lieferketten bestellt ist, wäre natürlich, es einfach darauf ankommen zu lassen. Früher oder später wird schon irgendwas schiefgehen und in der Krise stellt ihr rasch fest, wie stressresistent eure Supply Chain tatsächlich ist.

Dass dieser reaktive Weg keine smarte Lösung ist, leuchtet hoffentlich jedem ein. Kluge Unternehmer:innen reagieren proaktiv und bewerten die Performanz ihrer SCR anhand der folgenden fünf Kriterien:

#1 Die Verfügbarkeit von Daten in der Supply Chain und die Geschwindigkeit, mit der sie übermittelt werden

Informationen sind in der Geschäftswelt Gold wert – dieser einfache Grundsatz gilt selbstverständlich auch für eure Supply Chain. Je vielfältiger die Daten sind, die euch durch Zulieferer übermittelt werden und je schneller sie euch erreichen, desto performanter ist eure Supply Chain Resilience.

In der Praxis bedeutet das, dass ein Produktionsbetrieb euch nicht nur eine E-Mail senden sollte, wenn eine Bestellung bei ihm eingeht. Im Idealfall wird jeder einzelne Schritt und jede wichtige Information rechtzeitig kommuniziert: Etwa, wie lange es von der Auftragsannahme bis zur voraussichtlichen Auslieferung dauert, wann eine Bestellung die Fabrik verlässt und wo sie sich gerade befindet oder wie lange die geschätzte Wegzeit beträgt.

Auch die Responsiveness eurer Zulieferer ist von entscheidender Bedeutung. Wird eine E-Mail in Stunden oder Tagen beantwortet? Habt ihr einen persönlichen Ansprechpartner und ist dieser zu euren Geschäftszeiten gut erreichbar? Gerade diese Punkte lassen sich im Geschäftsalltag leicht überprüfen, indem ihr eure Zulieferer testweise vor eine kleine Herausforderung, wie die Änderung der Bestellmenge kurz vor Auslieferung, stellt.

#2 Collaboration: Wie gut funktionieren eure Schnittstellen?

Selbst wenn eure Supplier euch mit allen relevanten Informationen versorgen – sie sind nahezu nutzlos, wenn sie betriebsintern erst in einem PDF gesammelt, ausgedruckt und dann in die Managementetage getragen werden müssen.

Daten sollten von allen Verantwortlichen immer direkt abrufbar, austauschbar und einfach darstellbar sein; nicht nur in eurem eigenen Unternehmen, sondern im besten Fall auch zwischen euch und euren Zulieferern.

Hierfür benötigt ihr die entsprechenden Schnittstellen inklusive der dazugehörigen Software, mit der im Idealfall alle Stakeholder arbeiten. Denn wenn es zum Ernstfall kommen sollte und ihr etwa einer unerwartet hohen Nachfrage gegenüberseht, ist ein Umweg über Excel-Tabellen und handgeschriebene E-Mails unternehmerisch nicht hinnehmbar.

Um die Performance eurer Supply Chain zu messen, ist an dieser Stelle ein kleiner Stresstest durchaus angebracht. Wie lange dauert es wirklich, bis allen Entscheidungsträger:innen die notwendigen Informationen vorliegen und wie schnell können sie reagieren? Mehr als ein paar Stunden sollten am Ende nicht auf der Stoppuhr stehen.

#3 Forecast Error Rate: Die Fehlerrate in eurer Supply Chain

Selbst wenn die Daten zahlreich sind und zwischen allen Stakeholdern effizient kommuniziert werden – Supply Chain Management ist, genau wie der Wetterbericht, zwar ein evidenzgestützer, aber unsicherer Blick in die Zukunft: Wann wird es zu Absatz-Peaks kommen? Wo drohen Lieferengpässe? Müssen wir mit einem Produktionsausfall rechnen?

Immer, wenn ihr in der Vergangenheit eine Voraussage getroffen habt, wird sie sich später entweder als richtig oder falsch erwiesen haben. Setzt ihr nun die Anzahl der unrichtigen Voraussagen ins Verhältnis zur Menge der insgesamt getroffenen Voraussagen, beschreibt der entstehende Quotient die Fehlerrate eures Supply Chain Management, die sogenannte Forecast Error Rate. Oder als einfache Formel:

Einstellige Prozentbeträge sind dabei für die meisten Unternehmen noch problemlos verkraftbar und ein guter Indikator für eine zuverlässige Supply Chain. Denn Fehler wird es immer geben und selbst der beste Supply Chain Manager der Welt liegt nicht jedes Mal richtig. Spätestens aber, wenn sich eure Forecast Error Rate im zweistelligen Prozentbereich bewegt, besteht Handlungsbedarf.

Jetzt gilt es, die Fehlerquelle aufzuspüren: Werden Informationen nicht schnell genug weitergeleitet? Ist die Menge an vorliegenden Daten zu gering? Oder ist euer Zulieferer einfach notorisch unzuverlässig und ihr solltet euch nach einer Alternative umsehen?

#4 Der FM Global Resilience Index

Apropos unzuverlässige Zulieferer: Eine ebenso einfache wie effiziente Methode, eure Supply Chain auf ihre Resilienz zu überprüfen und gleichzeitig bessere Voraussagen zu treffen, ist ein Blick auf den FM Global Resilience Index.

Mit seiner Hilfe lässt sich die Widerstandsfähigkeit einer Supply Chain standortabhängig einordnen. 130 Länder werden nach den Kriterien Qualität der Infrastruktur, Umfang von Korruptionskontrollen, Transparenz von Lieferketten und Qualität der Zulieferer bewertet und sortiert.

Ein Blick auf die Weltkarte reicht aus und ihr könnt beruhigt das nächste Projekt planen, da eure Partner in Österreich sitzen (94,2 von 100 Punkten, Rang 8) – oder ihr solltet euch dringend nach einer Alternative zu Venezuela (1,5 von 100 Punkten, Rang 129) umsehen.

Selbstverständlich wird beim Blick auf den Global Resilience Index möglichst nicht nur eure Enderzeuger betrachtet, sondern es werden auch dessen Zulieferer mit einkalkuliert und der Durchschnitt gebildet. Kooperiert ihr etwa mit einer Fabrik im zuverlässigen Spanien (86,8 Punkte), die ihre Rohstoffe wiederum vom Nachbarn Portugal (76,8 Punkte), dem nahen Marokko (42,1 Punkte) und aus dem krisengebeutelten Algerien (31,2 Punkte) bezieht, ergibt das:

Ein vergleichsweise schlechter Wert, der auf zukünftige Probleme in eurer Supply Chain hindeutet.

#5 OEE: Der Effizienzindex

Das letzte Kriterium, anhand dessen sich die Resilienz eurer Supply Chain bestimmen lässt, ist die Overall Equipment Effectiveness (OEE) oder auch Gesamtanlageneffektivität – eine Kennzahl, die vorwiegend von produzierenden Unternehmen genutzt wird, sich in modifizierter Form aber auch für reine Händler:innen nutzen lässt.

Im eigentlichen Sinn wird für den OEE ein Blick auf die Maschinenlaufzeit eines Betriebes geworfen und dabei aus den Faktoren Verfügbarkeit, Leistung und Qualität ein Quotient errechnet, der die effektive Auslastung der Anlagen beschreibt; und zwar so:

Dabei beschreibt Verfügbarkeit die Zeit, die eine Maschine durchschnittlich zur Herstellung eines Teils benötigt. Qualität ist die Differenz aus der produzierten Gesamtmenge, abzüglich Teilen, die Ausschuss sind, beziehungsweise nachbearbeitet werden müssen. Leistung steht für die Laufzeit einer Maschine, bis sie gewartet werden muss.

Zunächst bildet der OEE einen hervorragenden Maßstab, um die Befähigung eurer Zulieferer zu überprüfen und damit die Belastbarkeit eurer Supply Chain zu bewerten. Zuverlässige und damit resiliente Unternehmen werden mit einem guten OEE werben oder ihn zumindest nicht verschweigen. Fabriken, in denen Maschinen häufig ausfallen oder die nur über wenige qualifizierte Mitarbeiter:innen verfügen, werden ihren OEE dagegen kaum enthüllen.

Auf euch als Händler:innen lässt sich der OEE wiederum in seiner klassischen Berechnung natürlich nicht direkt übertragen; sein Geist kann jedoch sehr wohl angewendet werden. Denn stellt ihr fest, dass es in eurem Lager häufig zu Leerlauf kommt und euren Pickern die Arbeit ausgeht, während sie zu anderen Zeiten völlig überlastet sind, ist das ein guter Indikator dafür, dass es in der Supply Chain hakt.

Vielleicht treffen Lieferungen nicht schnell genug ein oder erreichen euch zu gehäuft. Eventuell sind die Termine eures Zustelldienstes ungünstig gewählt oder es krankt in der Bestellabwicklung. In jedem Fall heißt es, Ursachenforschung betreiben, um so auch im Krisenfall eine gut funktionierende Supply Chain garantieren zu können.

Gewappnet für alle Unvorhersehbarkeiten

Zusammen bilden diese fünf Kriterien ein Framework, anhand dessen ihr eure Supply Chain Strategie auf ihre Resilienz messen, überprüfen und gegebenenfalls neu ausrichten könnt.

So seid ihr langfristig auf jede Krise vorbereitet und bleibt auch in Extremfällen handlungsfähig und lieferbereit. Denn machen wir uns nichts vor: Bis zur nächsten Katastrophe, ob Großbrand im Hamburger Hafen oder die Omega-Variante, ist es nur eine Frage der Zeit. Gute Argumente also, eure eigene Supply Chain Resilience möglichst zeitnah zu testen.

Titelbild von ds_30.

 

Carolina Engl

Content Marketing Manager

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